Bei dem Entführungsfall „Johannes Erlemann“ geht es um deine persönliche Geschichte. Wie kam es zu diesem Projekt?
Vor zehn Jahren habe ich angefangen, meine Erinnerungen durch Notizen festzuhalten. Dabei fiel mir wieder das Tonband ein, das das Gespräch eines Kinderpsychologen und mir am Tag nach meiner Freilassung enthielt. Ich hatte die Abschrift davon verloren, weshalb ich mich beim Institut gemeldet habe. Mir wurde gesagt, dass es wohl geschreddert wurde. Ein paar Tage später durfte ich trotzdem im Keller des Instituts nach dem Tonband suchen und ich habe es tatsächlich noch gefunden. Im Anschluss habe ich mich mit Journalist:innen und Polizist:innen unterhalten, die den Fall damals begleitet haben und bin dadurch an die gesamten Akten des Falls gekommen. Dazu gehörten unter anderem die Verhörprotokolle der Entführer sowie meiner Familie und die handschriftlichen Briefe der Entführer an meine Mutter. Es war nicht einfach, das alles zu lesen. Aber es war der Anstoß, daraus etwas zu machen.
Wie ging es dann weiter?
Zunächst wollte ich ein Buch schreiben. Nachdem ich in Interviews von meinem Vorhaben erzählte, kamen große Filmproduktionen auf mich zu, die meine Geschichte verfilmen wollten. Allerdings hat sich das für mich nicht richtig angefühlt. Durch eine schicksalhafte Begegnung mit Veronica Ferres ergab sich eine völlig neue Perspektive. Sie hat vorgeschlagen, dass wir gemeinsam diesen Film produzieren. Nach mehreren Jahren ist er dann entstanden. Durch eine wunderbare Liaison mit RTL kamen noch ein Podcast, eine vierteilige Dokumentation und das Buch hinzu, das ich schon immer schreiben wollte. Für mich stand nicht im Fokus, eine allumfassende mediale Aufarbeitung zu betreiben. Viel mehr ist es für mich ein allumfassender Prozess der vollständigen Behandlung meines Schicksals. Genau das ist das Entscheidende.
Wie sah die Zusammenarbeit mit Veronica Ferres aus?
Eigentlich ist es für eine Produktionsfirma ja ein „Albtraum“, wenn sich der Betroffene „einmischen“ möchte. Da ich auch selbst Filmemacher bin, war es mit Veronica Ferres viel mehr ein gemeinsames Gestalten. Das Besondere ist, dass wir etwas vollkommen Authentisches geschafft haben. Niemand außer mir kann besser beschreiben, was damals passiert ist. Deshalb haben wir auch jeden Satz im Drehbuch einzeln umgedreht.
Ist durch die Zusammenarbeit mit Veronica Ferres eine Freundschaft entstanden?
Als ich sie das erste Mal getroffen habe, war das Verhältnis vom ersten Moment an sehr vertraut. Eigentlich sollten wir uns nur 30 Minuten sehen. Doch es wurde ein Abendessen bis 3 Uhr nachts. Und das, obwohl sie am nächsten Morgen eine frühe Fernsehaufzeichnung hatte. An diesem Abend hat sich eine Freundschaft entwickelt. Heute ist Veronica meine engste Vertraute. Ich habe mich einer anderen Person zuvor noch nie so weit geöffnet.
Aus Deinem Fall ist ein Film, ein Podcast und auch ein Buch entstanden. War das eine Art Therapie für dich?
Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass es das Beste für mich war. Das Projekt war am Ende des Tages eine Konfrontationstherapie, die ich so gar nicht geplant hatte.
Wie blickst du auf die Entführung zurück?
Ich schaue auf die Entführung versöhnlich zurück. Wenn ich ein Problem damit hätte, wäre ich jeden Tag schlecht gelaunt. Ich wurde mal gefragt, ob ich alles ungeschehen machen möchte. Das möchte ich nicht. Denn es hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich bin glücklich und dankbar für das Leben. Ich liebe das Leben.
Du bist also trotz allem ein glücklicher Mensch?
Es hat mein Leben natürlich maßgeblich beeinflusst. Die Entführer haben eine mehrjährige Gefängnisstrafe bekommen und danach ihr Leben weitergelebt. Ich habe gewissermaßen lebenslänglich bekommen. Das Thema beschäftigt mich seit über 40 Jahren jeden Tag. Aber es hat mich auch geprägt und mich zu einem besonderen Menschen gemacht. Es ist tragisch, dass meine Kindheit mit der Entführung am 6. März 1981 zu Ende war. Sie ist in der Kiste geblieben, in der ich gefangen gehalten wurde. Ich bin aus ihr als ein anderer Mensch rausgegangen. Es ist eine Tragik aber auch eine Lebensentwicklung, für die ich heute dankbar bin.
Wie blickst du heute auf die Täter?
Zunächst wollte ich die Täter im Rahmen der Dokumentation treffen. Ich hätte es versöhnlich gefunden. Die Produktion und ich haben uns dann aber doch dagegen entschieden. Auch deshalb, weil die Täter nicht amüsiert mit der ganzen Entwicklung dieser Geschichte sind. Sie genießen heute ihren Lebensabend und möchten nichts mehr von dem Fall wissen.
Wie hast du die Entführung damals als Kind erlebt?
Ich erinnere mich an jedes Detail und an jede Sekunde, als wäre es erst letztes Wochenende gewesen. Es hat sich so im Kopf eingebrannt, dass ich es nie wieder vergessen werde. Das Schwierige hingegen ist, das Ganze in Worte zu fassen. Teilweise müssen die Worte dafür erst noch erfunden werden. Ich bin damals sehr privilegiert groß geworden und habe mein Leben in Zürich und Saint-Tropez verbracht. Dann kam auf einmal dieser „Donnerschlag“ und es begann der Albtraum. Die Täter rissen mich vom Fahrrad und haben mit einem in Chloroform getränkten Lappen versucht, mich zu betäuben. Im Instinkt habe ich so getan, als wäre ich sofort bewusstlos gewesen. Ich habe direkt erkannt, dass die Situation aussichtlos ist. Ich hatte absolute Todesangst und dachte, dass sie mich umbringen würden. Klischeehaft sah ich Bilder aus meiner Kindheit vor mir. Ich dachte, dass mein Leben zu Ende ist. Im Verlauf der ersten 24 Stunden hatte ich schreckliche Angst. Sie entwickelte sich dann zu einer Art Hoffnung, weil ich erkannt habe, dass die Täter etwas wollten. Es gab die Perspektive, dass ich da doch noch herauskomme. Die Sache wurde wieder tragisch, als die erste Geldübergabe gescheitert ist. Die Täter haben ein Mal vergessen, ihre Maske aufzuziehen, wodurch ich sie gesehen habe. Das sah ich als mein Todesurteil. Mein einziger Wunsch war nur, dass sie mich nicht unter Erde mit Handschellen verrecken lassen. Ich wollte, dass sie mich lieber in den Teich schmeißen oder mich vor die Haustüre meiner Eltern setzen.
Wie gut ist die Umsetzung dieser Ereignisse im Spielfilm gelungen?
Bei dem Spielfilm habe ich nicht nur minutiös jede Zeile vom Drehbuch mitbegleitet, sondern auch die Dreharbeiten. Wir waren zu 95% an den Originalschauplätzen. Beispielsweise waren wir nachts exakt an der Stelle der Freilassung in Mönchengladbach. Cecilio, der mich in dem Film wunderbar spielt, habe ich ganz genau erklärt, was da passiert ist. Ich habe mich selbst hingelegt und genaustens vorgemacht, wie ich mich damals bewegt habe. Da damals mein Kreislauf immer wieder zusammengebrochen ist, habe ich die Sterne tanzen sehen. Das war für mich damals ein schöner Moment. Genau so habe ich Cecilio alles bis ins letzte Detail erklärt. Und auf diese Weise ist dann der Spielfilm entstanden. Ich habe ihn auch zum Teil selbst mitgeschnitten. Es wirkt so, als wäre damals eine Kamera mitgelaufen.
Ist es das Besondere an dem Film, dass Du als Betroffener so nah bei der Produktion dabei warst?
Das macht es einzigartig. Dass ich dort stand und alles nochmal vor mir sah, war eine Konfrontationstherapie. Es war aber auch kein Spaziergang. Ich wusste, dass ich mich auf ein Abenteuer einlasse. Manche Momente haben mich dabei nochmal hart erwischt. Genau das wollte ich aber auch. Ich möchte mit dem Film Menschen helfen, die von ihrem Schicksal geprägt sind. Manche können damit nicht ihr Haus verlassen oder keinen klaren Gedanken fassen.
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