Was hat Sie zur Serie inspiriert?
Vor vielen Jahren gab es den traurigen und verstörenden Fall eines 14-jährigen Mädchens, das von einem Teenager mit 24 Messerstichen ermordet wurde. Die beiden hatten sich im Internet kennengelernt und den Abend vorher haben sie noch gemeinsam mit den Eltern zu Abend gegessen. Es gab keine Vorzeichen und auch keine psychologische Erklärung für seine Tat. Das Ganze hat mich zutiefst bewegt, vielleicht, weil ich selbst eine Mutter bin und das Schlimmste, was einem passieren kann, ist ein Kind zu verlieren.
Beim ersten Zusammentreffen 2018 mit meinem Produzenten Bernd von Fehrn haben wir eine Menge Übereinstimmungen hinsichtlich der Herangehensweise an Stoffe entdeckt. Und festgestellt, dass uns die Frage beschäftigt, wie im Kern eine Geschichte beschaffen sein muss, dass sie eine Wunde heilen kann und wie eine Wunde, dass sie eine Geschichte erschaffen kann. Bei "Zwei Seiten des Abgrunds" geht es – wörtlich - um zwei Seiten: Vergangenheit und Gegenwart eines schrecklichen Verbrechens. Erst im Laufe der Serie entdecken wir Stück für Stück, dass dieses Gewaltverbrechen möglicherweise einen ganz anderen Hintergrund gehabt haben könnte. Denn unter dem Thriller verbirgt sich ein feinstoffliches Drama der drei Hauptfiguren Luise, Dennis und Josi. Mit all ihren widersprüchlichen Interaktionen in der Vergangenheit und ihren unheilvollen Verstrickungen in der Gegenwart, die jede von ihnen eine Art "Schattenexistenz" führen lässt. Alle drei haben etwas in ihrer Vergangenheit, was sie unter keinen Umständen voreinander preisgeben wollen. Das müssen sie aber, um zu verstehen, wer sie wirklich sind. Von dieser Grundspannung lebt die gesamte Serie. "Am schwärzesten Fluss der Welt, der Wupper, lernt man erkennen, welche Menschen leuchten." Die berühmte Gedichtzeile der gebürtigen Wuppertalerin Else Lasker-Schüler fasst in ihrer prägnanten Schlichtheit alles zusammen, was als eine Art "Leitmotiv" über meinem Schreibtisch hing.
Wie kam es dazu, die Serie in Wuppertal anzusiedeln?
Produzent Bernd von Fehrn und ich wussten schon sehr früh, dass diese Geschichte nicht in einer der üblichen Metropolen, sondern in dem filmisch noch weitgehend unentdeckten Wuppertal verortet sein wird. Der größten Stadt des Bergischen Landes im Westen Deutschlands, die aus mehreren zusammengelegten Dörfern besteht. Ich war und bin fasziniert von der visuellen Strahlkraft und dem morbiden Charme dieser ehemaligen Textilindustriestadt. Von den übereinander geschichteten Häuserfassaden, die sich steil an den Hängen hochziehen und den brachliegenden Fabrikanlagen und Gewerbehallen, Opfer des Strukturwandels. Gleichzeitig befindet sich die Stadt im Wandel. Und natürlich ist Wuppertal weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt für die Schwebebahn, die für unsere Serie visuell und inhaltlich mit stilprägend ist. Es lohnt sich, auf die Suche nach besonderen Schauplätzen zu gehen, wo der Handlungsort nicht nur reine Kulisse darstellt, sondern den Blick auf die jeweiligen Figuren schärft. Wie beispielsweise das Motiv des Recyclinghofs, den ich während meiner Recherchen schon 2018 am Rande von Wuppertal entdeckt habe. Da wusste ich: Hier arbeitet Dennis Opitz, wenn er aus dem Gefängnis entlassen wird.
Bei "Zwei Seiten des Abgrunds" gibt es quasi das umgekehrte Konzept zu dem heute sehr oft genutzten Writers Room: Wir haben eine Autorin und 3 Produktionspartner. Können Sie uns etwas Einblick in Ihren Schreibprozess geben?
Bis heute ist meine Herangehensweise an die Stoffentwicklung von der Überzeugung geprägt, dass ohne ambivalente Figuren auch keine dramatischen Wahrheiten entstehen können. Es geht also (eher) darum, von innen nach außen zu arbeiten, character-driven und mich auf das Unbekannte einzulassen. Wenn ich hier als Autorin zu früh die Geduld verliere und anfange, die Figuren selbstgefällig hin und herzuschieben, nur damit irgendwann meine Geschichte passt, werde ich "on the long run" scheitern. Gleichzeitig muss ich natürlich in der Lage sein, den großen Erzählbogen einer sechsteiligen Thrillerserie inklusive Cliffhanger zu plotten, also in erster Linie strukturiert und rational vorgehen. Im Grunde handelt es sich um zwei unterschiedliche Energien oder Persönlichkeiten, die ich beim Freischaufeln einer Geschichte einsetze. Es gibt die rein "Intuitive", die sich im Unterbewusstsein der Figuren einnistet, um herauszufinden, wie sie wirklich ticken. Und die strenge "Analytikerin", die den Überblick behält und darüber entscheidet, welche Idee es tatsächlich in die Geschichte schafft. Das bedeutet eben auch, die eigene Arbeit selbstkritisch zu begleiten und stets nach der noch besseren Idee Ausschau zu halten. Diese Transparenz im gesamten Stoffentwicklungsprozess war auch meinen Executive Produzent:innen wichtig. Es gab wirklich keine Frage, die nicht gestellt werden durfte. Für diese Erfahrung bin ich extrem dankbar.
Wie war es, die Serie auch als Creative Producerin zu begleiten?
Als verantwortliche Creative Producerin war ich an sämtlichen kreativen Entscheidungen während der Pre- und Post-Production beteiligt, inklusive der Auswahl von Regie und Cast. Das hat auch später in der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Anno (Saul) prima funktioniert. Ich habe mich schon sehr früh mit unserer Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle getroffen, um über ihre vielschichtig angelegte Figur LUISE BERG zu sprechen und die Leseproben mit dem Hauptcast waren für mich als Creator sehr aufschlussreich und spannend. Während der viermonatigen Dreharbeiten habe ich Regie und Team ihre anspruchsvolle Arbeit machen lassen, habe täglich Muster gesichtet und war während der gesamten Zeit ansprechbar für Regie, Cast und Gewerke. Während der Postproduktion, die insbesondere im Schnitt dramaturgisches Feingefühl erfordert, konnte ich maßgeblich meine Expertise einbringen. Eine Erfahrung, die mich darin bestärkt, dass herausragende Filmprojekte in der Summe das Ergebnis einer erfolgreichen Teamarbeit abbilden.