Heike G. war unter den 25 Frauen und Männern, die in den Jahren 1994 bis 1997 des massenhaften Kindesmissbrauchs angeklagt wurden. Im Interview spricht die 53-Jährige über ihre traumatischen Erlebnisse, die schlimmen Anfeindungen gegen ihre Person und schildert die Hysterie der Medien, die sie noch heute schockiert. Heike G. zählt zu den Justizopfern der "Wormser Prozesse".
Wie haben Sie den Moment der Verhaftung erlebt?
"Am 11.11.1993 bin ich mit meiner kleinen Tochter, die 4 Monate alt war, zur Uniklinik zu einem Impftermin gefahren. Morgens mit dem Bus von Weinsheim nach Worms. Als ich aus dem Bus ausstieg, hat meine große Tochter mit zwei Polizisten in Zivil am Bus gestanden. Sie haben gesagt, dass ich nicht mehr weiterfahren dürfte. Es hieß, ich solle mit zur Polizei gehen, in ein bis zwei Stunden hätte sich das erledigt. Ich wollte zuerst meine Tochter mitnehmen. Es hieß, ich solle sie der Frau vom Jugendamt übergeben, falls etwas bei der Polizei wäre. Das habe ich auch gemacht - und das war der größte Fehler, den ich je gemacht habe. Ab dem Zeitpunkt war ich ein halbes Jahr in U-Haft und habe meine Kinder vier Jahre nicht mehr gesehen."
Wie haben Sie auf Ihre Verhaftung reagiert, die Sie vollkommen unerwartet getroffen haben muss? Schließlich waren Sie unschuldig.
"Verstanden haben wir schon, was da vor sich ging, aber uns ging durch den Kopf: das muss ein Fehler sein, das wird aufgeklärt. Dass das solche Ausmaße annimmt, das hat keiner geahnt, dass so viele Kinder aus der Familie gerissen werden, dass so viele Leute angeklagt werden. Ich bin schier durchgedreht. Wir haben da unten im 'Bunker' (A.d.R.: Zelle im Polizeipräsidium Worms) schon geheult, rumgeschrien, das ist wie ein Alptraum, von dem man nicht mehr aufwacht. Und der ging immer weiter, immer weiter."
Wie waren die Reaktionen auf Sie unter den Gefangenen? Haben Sie schon dort gespürt, welche Ausmaße der Hass annehmen wird, der Ihnen entgegenschlug?
"Trotz Aufschluss oben in den Gruppen musste ich mich einschließen lassen. Die Mithäftlinge sind auf mich los, mit Messern und Gabeln. Ich gehe davon aus, dass sie durch das Fernsehen und die Zeitungen alles mitbekommen haben, das hat die Runde gemacht wie ein Lauffeuer. Die Reaktionen waren Beschimpfungen: 'Mit sowas wollen wir nichts zu tun haben, die gehört gleich aufgehängt.'"
Warum, denken Sie, war gerade Ihr Prozess begleitet von einem Übermaß an Empörung, Hass und Hetze?
"Ich denke, es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn es sich nicht um dieses Thema gedreht hätte, wenn wir einen Bankraub vorgeworfen bekommen hätten. Sexueller Missbrauch an Kindern ist definitiv schlimm. Die Leute, die so etwas machen, müssen auch verurteilt werden, aber die Vorverurteilung schon, bevor der Prozess überhaupt angefangen hatte, von so vielen Leuten, das ging durch die Presse, das ging durchs Fernsehen, das war mit das Schlimmste. Die Vorverurteilung zusammen mit dem schrecklichen Vorwurf. Wenn ich durch die Stadt gelaufen bin, haben sie mich direkt angesprochen oder haben hinterhergerufen: „Da ist die Kinderfickerin.“ Da gab es einen Punkt, ab dem ich kaum noch raus bin, nur noch daheim war, fast durchgedreht wäre, da war die Grenze bei mir erreicht, da musste irgendetwas passieren. Eine Behandlung oder ich müsste weg von hier."
Welchen Aspekt der Medien haben Sie in Ihrer Situation als besonders unangenehm empfunden?
"Das Aufdringliche, das zu nah kommen. Um jeden Preis ein Foto von einem erhaschen, bloß genug Material von den Personen bekommen. Da bekomme ich heute noch Gänsehaut. Das Beengte, das Aufdringliche."
Wenn Sie heute eine Bilanz ziehen müssten, was hat dieser Prozess Sie gekostet?
"Was hat mich der Wormser Prozess gekostet? Mein Leben. Mit einem Wort - mein Leben. Mein Mann war mein Leben, meine Kinder waren mein Leben."
Wie verlief die Zeit nach dem Freispruch für Sie? War dies ein Moment der Erleichterung?
"Natürlich habe ich gedacht, jetzt wird alles wieder gut. Jetzt kommen die Kinder heim. Jetzt wird alles wieder so, wie es vorher war, vor der Verhandlung und vor der Untersuchungshaft. Leider war das ein Irrtum. Die Kinder sind schon entfremdet, die Kinder sind schon so lange aus dem familiären Haushalt gerissen, das kann man den Kindern nicht antun, die nun wieder zurückzuführen, die wieder aus einer gewohnten Umgebung herauszureißen und wieder in die Familie zu bringen. Reingekommen bin ich mit Kindern, als glückliche, verheiratete Frau, mit einer schönen Wohnung. Und rausgegangen bin ich geschieden, kinderlos, wohnungslos, krank."
Was ist heute Ihre Motivation, als Protagonistin in einer Dokumentation über die Aufarbeitung der Wormser Prozesse Ihre Geschichte zu erzählen und die schrecklichen Erlebnisse von damals erneut zu durchlaufen?
"Mein Grund, warum ich heute hier sitze, ist einzig und alleine der: Darauf habe ich schon seit Jahren gewartet, dass darüber berichtet wird. Damals sind wir ins Negative gezogen worden, all die Jahre ist gar nichts gekommen, nur die Entschuldigung vom Richter Lorenz. Es ist weder positiv geschrieben worden noch sonst irgendetwas. Ich habe darauf jahrelang gewartet, dass das endlich ans Licht kommt und dass das aufgeklärt wird, wie es wirklich war. Meine Erwartungen sind die, dass wenn ich das jetzt alles nochmal gesehen habe, dass ich besser damit umgehen kann, dass es endlich der Vergangenheit angehört."
Interview Richter H. E. Lorenz
In den Jahren 1994 bis 1997 kam es zu insgesamt drei Wormser Missbrauchsverfahren. Richter H. E. Lorenz wirkte als Vorsitzender in den Verfahren Worms II und III, die sich über einen Zeitraum von zwei Jahren erstreckten. Mit seiner viel zitierten Entschuldigung gegenüber den Angeklagten schaffte H. E. Lorenz einen Präzedenzfall in der deutschen Justizgeschichte: „Den Wormser Massenmissbrauch hat es nie gegeben. Bei allen Angeklagten, für die ein langer Leidensweg zu Ende gegangen ist, haben wir uns zu entschuldigen.“
Was haben die Wormser Prozesse für Ihre berufliche Laufbahn bedeutet?
"Ich habe hier in der großen Strafkammer, am Landgericht Mainz, mitgewirkt an etwa 2000 Verfahren. Die meisten vergisst man, einige wenige bleiben in Erinnerung. Und das Wormser Missbrauchsverfahren mehr als alle anderen, weil es prozessual, rechtlich, aber auch menschlich die größte Herausforderung war, die mir in meinem Berufsleben begegnet ist."
Ein Mammutprozess, an dessen Ende ein Freispruch steht. Hat diese Aufgabe auch bei Ihnen Spuren hinterlassen?
"Das war eine menschliche Herausforderung auch insofern, dass man sich irgendwann selber eingestehen musste, in die falsche Richtung galoppiert zu sein. Dass man in dem Verfahren umdenken muss und nun zu Ergebnissen kommt, die natürlich auch der Öffentlichkeit, auch den Kollegen im Hause, der Staatsanwaltschaft, der Politik, den Medien vermittelt werden müssen."
Die Presse hat einen wesentlichen Einfluss genommen auf die Beurteilung der Angeklagten. Wie haben Sie die Berichterstattung wahrgenommen?
"Die Vertreter der Presse befanden sich in zwei unterschiedlichen Lagern. Das eine Lager, das die Theorie vertreten hat, dies sei der größte Massenmissbrauch der deutschen Rechtsgeschichte und das andere Lager, das von vornherein mit einer gewissen Skepsis in das Verfahren hineingegangen ist, auch auf der Basis von Erfahrungen aus früheren Verfahren. Dass möglicherweise bei der Ermittlungsarbeit Kriterien nicht beachtet wurden, die in solchen Verfahren beachtet werden müssen. Das hat sich optisch so dargestellt, diese Lagerteilung, dass die einen in der linken Ecke in der Pressereihe saßen und die anderen in der rechten Ecke und die Kommunikation untereinander relativ gering war. So habe ich die Pressearbeit, die Medienarbeit, wahrgenommen damals. Wobei es für einen Richter, wir lesen natürlich auch, was die einen schreiben und was die anderen schreiben, dann wichtig ist, sich von allem, was in den Medien steht, zu distanzieren. Ich habe mir damals gesagt und den Kollegen auch, entscheidend ist, dass ihr morgen in den Spiegel gucken könnt. Alles andere müsst ihr ausblenden."
Es gibt zwei elementare Protagonisten im Verfahren, die vermeintliche Beweise lieferten, einen Kinderarzt sowie eine Kinderschützerin. Welche Fehler wurden in diesem Zusammenhang gemacht?
"Es gab wohl eine persönliche Verbindung zwischen dem Wormser Kinderarzt und der Kinderschützerin. Diese Kinderschützerin trat am 1. Mai 1993, wenn ich es recht erinnere, ihre Arbeit an. Der Arzt hat dann alle Kinder, bei denen er Missbrauch in Verdacht hatte, zu der Kinderschützerin geschickt. Diese hat dann in kurzer Zeit, auch im Auftrag der Staatsanwaltschaft, Aufdeckungsarbeit betrieben. Einer der elementaren Fehler in diesem Verfahren ist es gewesen, dass die Kriminalpolizei Worms, in der gut ausgebildete, erfahrene Kollegen waren, die die Vernehmungen hätten durchführen können, aus den Ermittlungen völlig herausgenommen wurden. Die Ermittlungsarbeit wurde praktisch einem Kinderschutzbund übertragen. Das war einer der elementaren Fehler im Ermittlungsverfahren. Was die ärztlichen Befunde angeht, ist zu sagen, dass sexueller Missbrauch durch ein ärztliches Attest nicht belegt, aber auch nicht widerlegt werden kann. Es kann also sehr wohl Missbrauch stattgefunden haben, ohne dass die Kinder körperliche Erscheinungen davontragen."
Können Sie erläutern, welche Fehler in der Befragung tatsächlich gemacht wurden?
"Ich habe vorhin schon angedeutet, zu den elementaren Fehlern im Ermittlungsverfahren gehörte, dass die Befragungen der Kinder dieser Kinderschützerin überlassen wurden. Diese Kinderschützerin ist keine gelernte Ermittlerin. Die Kinderschützerin weiß nicht, wie man eine Vernehmung durchführt. Die Kinderschützerin hat den Fehler gemacht, dass sie bei der Befragung der Kinder die Antwort in die Frage eingebaut hat. Ist es richtig, dass dieser dich dann und dann auf diese Weise missbraucht hat? Darauf hat ein Kind möglicherweise drei Mal die Antwort verneint und beim vierten Mal bejaht. Kinder sind suggestibel. Die richtige Fragetechnik ist, offene Fragen zu stellen. Das waren alles geschlossene Fragen, die den Kindern zugeworfen wurden. 'Was ist dann passiert? Wer war dabei? Wo ist das gewesen? Was ist da gesprochen worden?' Wenn Kinder dann, aus eigenem Erleben, Sachverhalte rekapitulieren und erzählen, dann liegen am Ende genügend Realkennzeichen vor, aus denen geschlossen werden kann, dass die Angaben der Kinder auf etwas Erlebtem beruhen. Im vorliegenden Fall, bei keinem dieser Kinder, ist spontan eine Geschichte erzählt worden, sondern alles ist in diese Kinder hineingefragt worden. Das war eines der Probleme."
Auf welche Säulen stützte sich die Anklage und wie brachen diese schließlich zusammen?
"Die Anklage baute auf zwei Säulen auf: Die medizinischen Befunde, die ärztlichen Befunde des Kinderarztes und die Befragungsergebnisse der Dame des Kinderschutzbundes. Wir haben dann im Rahmen der Hauptverhandlung festgestellt, dass ein Kinderarzt oder ein Arzt im Allgemeinen sexuellen Missbrauch in aller Regel, es sei denn es wird Sperma gefunden, nicht medizinisch-körperlich belegen kann. Damit brach die eine Säule weg. Die andere Säule brach weg, als wir dann, auch unter Hinzuziehung hochqualifizierter deutscher Sachverständiger und Glaubwürdigkeitspsychologen, feststellen mussten, dass die Befragungen der Kinder keinen Schuss Pulver wert waren. Weil sie eben technisch, handwerklich, völlig falsch gemacht waren und es kein Kind gab, das von sich aus eine auch nur halbwegs nachvollziehbare Geschichte des sexuellen Missbrauchs erzählt hat. Und dann bleibt eben von den Anklagevorwürfen nichts übrig."
Ihre Entschuldigung gegenüber den Angeklagten schlug hohe Wellen und gilt noch heute als ein Präzedenzfall der Justizgeschichte. Wie kam es dazu?
"Naja gut, da haben 25 Leute zwei Jahre in Untersuchungshaft gesessen. Wir haben deren Existenzen zerstört. Wir haben Familien zerstört. Die Staatsanwaltschaft, aber auch wir, das Gericht. Wir haben in der Anfangsphase Haftfortdauerbeschlüsse gemacht. Wir tragen auch einen Teil der Verantwortung. Wenn man zum Nachteil des Menschen so massiv in ihr Leben eingreift, dann bleibt einem am Ende nichts Anderes als sich zu entschuldigen, wenn es zu einem so glatten Freispruch kommt wie in diesem Verfahren. Dafür wurden wir auch kritisiert, teilweise auch von der Staatsanwaltschaft. Wir sollten unsere Arbeit machen und uns nicht entschuldigen. Aber es gehört sich einfach so."
Welche Konsequenzen haben Sie für sich persönlich aus diesen Erlebnissen gezogen bzw. ziehen müssen?
"Ich persönlich bin eigentlich einer, der das ganz gut wegstecken kann. Ich habe dann also nicht zwei Jahre nicht geschlafen oder so. Sport hat mir geholfen, mich dann immer wieder seelisch und körperlich zu stabilisieren. Was ich aus diesem Verfahren gelernt habe, ist kritischer zu sein, kritischer zu sein gegenüber Sachverständigen. Nicht alle, die bei Gericht als Sachverständiger auftreten, sind es dann auch wirklich. Zudem kritischer zu sein gegenüber der Staatsanwaltschaft, die in aller Regel eine gute Arbeit macht, aber eben auch manchmal gewaltig überzieht. Dafür gibt es auch aktuelle Beispiele. Und letztlich kritischer zu sein sich selbst gegenüber."
"Für einen Richter ist es wichtig, dass er mit der notwendigen Demut an so ein Verfahren herangeht. Ich bin immer ein bisschen vorsichtig bei Richtern, die mit gehörigem Selbstbewusstsein immer an das glauben und das für richtig halten, was sie nun gerade vertreten. Also die Möglichkeit, sich zu irren, sollte jedem Richter bewusst sein. Das sind Konsequenzen aus diesem Verfahren gewesen."
"Empörung – Der Skandal von Worms" ist eine Produktion von der Constantin Entertainment im Auftrag von TVNOW/VOX. Produzent ist Otto Steiner, Executive Producer Jan Vogelgesang, Producer Susanne Laermann. Die Redaktion liegt bei Sven Meyer und Julia Schmidt. Ulrich Klugius, Leitung Magazin/Doku Soap/Dokumentation VOX, verantwortet als Executive Producer.