Herr Aust, was erwartet die RTL+ Streamer in der Dokumentation „Angela Merkel – Frau Bundeskanzlerin“?
In fünf Teilen machen wir eine Zeitreise in die bewegte Geschichte von Angela Merkel, die aus dokumentarischem Material zusammengestellt wurde. Dazu haben wir viele hundert Stunden von Aufzeichnungen gesichtet. Zum Teil ist es Material, das schon gesendet worden ist, aber auch viele Aufnahmen, die wir zum Beispiel im SPIEGEL-Archiv gefunden haben. So bauen wir aus dokumentarischen Materialien die Geschichte von Angela Merkel so gut es geht zusammen.
Wieviel werden wir Angela Merkel als Kanzlerin erleben, wieviel von ihr als Privatperson?
Privat geht es natürlich nur so weit, wie sie mal jemanden in ihre Privatsphäre hineingelassen hat. Das ist nicht sehr viel, aber ich glaube man bekommt trotzdem einen guten Blick in das Pfarrhaus. Wir haben keine Interviews mit Menschen geführt, die rückblickend etwas erzählen, weil ich immer meine Skepsis gegenüber Interviews von Leuten habe, die eine Einschätzung vornehmen. Wenn Sie irgendeine Episode haben, dann können Sie sich jemanden aussuchen, der sie kritisch betrachtet und genauso gilt das andersherum. Die Geschichte soll aus vorhandenen Materialien so konkret wie möglich erzählt werden. Merkels Leben haben wir für die Serie in verschiedene Phasen aufgeteilt. Die erste Phase ist die Geschichte ihres Lebens praktisch bis zum Ende der DDR. Die zweite Phase zeigt ihren Aufstieg in die Politik, Merkel als „Kohls Mädchen“ und ihre ersten Erfahrungen als Ministerin. Dann folgt der Abschied von Kohl, Schröder übernimmt. Eine sehr interessante Zeit in ihrem Leben, denn sie hat die Situationen genutzt, um ihre Karriere in der CDU, der damaligen Oppositionspartei, nach oben zu treiben. Zuletzt gibt es zwei Phasen, in der wir ihre Kanzlerschaft darstellen. Es sind also im Grunde fünf verschiedene Abschnitte, von denen zwei - die beiden entscheidenden - natürlich ihre Kanzlerschaft umspannen. Der Weg zur Macht ist aber mindestens genauso spannend.
Wie sollte eine gute Dokumentation, Ihrer Meinung nach, sein?
Eine gute Dokumentation muss dem Zuschauer die Möglichkeit geben, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Sie muss zeigen, wie bestimmte politische Entwicklungen gelaufen sind, welche Schwierigkeiten es gab, wie diese gelöst worden sind und wie aus der einen Geschichte eine andere geworden ist. Wir haben versucht den Zeitlauf der Geschichte so präzise wie möglich abzubilden. Natürlich kann man nicht komplett neutral sein, das wollten wir auch nicht. Schon die Frage, welche Themen man vertieft darstellt und welche etwas weniger, ist natürlich die individuelle Entscheidung der Journalisten, die an dem Film arbeiten. Wir wollten den Film nicht mit eigenen Meinungen oder Anschauungen überfrachten, sondern neutral und nüchtern die Geschichte erzählen, aber auch so spannend, wie es geht. Das ist eine wahnsinnig fesselnde Geschichte, in der man nicht nur das Leben einer einzelnen Person, einer Politikerin, einer Karriere in einem wiedervereinten Deutschland aufzeichnet, sondern auch die Entwicklung dieses Landes. Es ist somit auch ein Blick auf die letzten 30 Jahre der deutschen Geschichte.
Wie nah waren Sie zur Dokumentation dran an Angela Merkel bzw. wie nah sind sie Ihr grundsätzlich?
Ich kenne Angela Merkel und sie kennt mich auch. Ich habe sie kennengelernt, als sie Parteivorsitzende war. Zu der Zeit habe ich sie auch mehrmals interviewt, danach auch als Bundeskanzlerin. Es ist nicht so, dass ich irgendwelche privaten Beziehungen zu Angela Merkel beziehungsweise Familie Merkel gehabt habe. Ich habe sie als Journalist kennengelernt. Ich war auch das ein oder andere Mal mit ihr und anderen Leuten zusammen essen und habe sie im kleinen Kreis erlebt. Sie kann dann übrigens sehr witzig und schlagfertig sein.
Um eine politische Entwicklung zu beurteilen ist es vielleicht gar nicht so gut, wenn man zu persönlich und zu nah dran ist. Ich habe nie einen großen Wert daraufgelegt, mit Politikern persönlich besonders eng zu sein. Ich habe mich immer ein bisschen auf Distanz gehalten, um die Neutralität und den kritischen Abstand nicht zu verlieren.
Duzen tun Sie sich also nicht?
Mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer war ich auf Du, das hat natürlich damit zu tun, dass wir so ungefähr eine Generation sind und uns schon viele Jahre kennen. Ich bin eigentlich mit Leuten und Politikern nur dann auf Du, wenn ich sie aus anderen Bereichen kenne. Um das aber nochmal deutlich zu sagen, dass ich mit Gerhard Schröder auf Du war, hat überhaupt nichts daran geändert, dass wir ihn, als er Kanzler war, kritisch betrachtet haben.
Können Sie sich an ihr erstes Aufeinandertreffen mit Angela Merkel erinnern?
Das ausführlichste Gespräch, das ich mit ihr geführt habe, war bei der Preisverleihung der Goldenen Feder, bei der ich ausgezeichnet worden bin als ich noch SPIEGEL-Chefredakteur war. Angela Merkel hat damals, ich glaube sie war Generalsekretärin, die Laudatio gehalten. An dem Abend habe ich mit ihr an einem Tisch gesessen und wir haben uns sehr lange und ausführlich unterhalten. Zu dem Zeitpunkt war sie politisch noch auf einem anderen Weg, damals war sie eher wirtschaftsliberal. Das hat sich später dann sehr stark geändert.
Was hat Deutschland, Europa und die Welt nach 16 Jahren Kanzlerschaft unter Angela Merkel zu verdanken?
Das sind unterschiedliche Phasen, das hängt immer davon ab, welche Sichtweise man selbst hat. Ein kleines Beispiel wäre die CDU, die sie stark verändert hat. Wenn Sie das kritisch betrachten, kann man sagen, dass sie aus der CDU, einer konservativ liberalen Partei, eine sozialdemokratische, grüne Partei gemacht hat. Auf der anderen Seite kann man das auch positiv sehen, denn dann hat sie die CDU modernisiert. Im Grunde können so alle verschiedenen Episoden betrachtet werden. Sie können sagen, dass sie liberal gedacht hat und viele Flüchtlinge und Migranten in das Land gelassen hat, so wie das auch der UN-Migrationspakt vorsieht. Trotzdem kann gesagt werden, dass sie damit zugelassen hat, innerhalb von gut zwölf Monaten fast 1,5 Millionen Leute ins Land hereinzulassen, die Integration aber nur bruchstückhaft zu Stande gekommen ist. Damit lässt sich auch sagen, dass wir deshalb zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte eine rechte Partei im Bundestag haben. So können verschiedene Stationen ihres Wirkens aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Außerdem hat sie die Energiewende konsequent durchgeführt, das kann man ebenfalls sowohl positiv als auch negativ sehen. Wir haben versucht die verschiedenen Wenden in ihrer politischen Geschichte und Entscheidungen so sauber rauszuarbeiten, dass man durchaus sein eigenes Urteil bilden kann und auch soll. Das ist die Idee dabei. Wir erzählen die Geschichte so genau und präzise, wie es geht, aber nicht total neutral, da wir die Leute auch auf Widersprüche hinweisen.
Die Welt wäre ohne Frau Merkel heute also eine andere?
Eine bessere oder schlechtere wage ich ehrlich gesagt nicht zu behaupten. Sie sehen das an gewissen Entwicklungen in verschiedenen Ländern. Wenn Sie die heutige Politik von Joe Biden betrachten, stellen Sie fest, dass er mit einer etwas sanfteren Vorgehensweise ganz viele Inhalte transportiert, die der Lautsprecher Trump polterig vorgetragen hat. Es gibt viele Dinge, die ganz ähnlich aussehen. Trump redet davon eine Mauer zu Mexiko zu bauen und Joe Biden schickt seine Vize-Präsidentin auf Tour nach Mexiko und Guatemala, um zu sagen: „Bleibt hier!“. Die Probleme bleiben dieselben, wie sie angepackt werden, das ist dann eine unterschiedliche Angelegenheit.
Welche waren Merkels größten Erfolge, welche Ihre schwersten Zeiten?
Die Glanzzeit besteht wahrscheinlich darin, dass wir immer noch in Wohlstand leben – die negative Seite besteht darin, dass die Staatsschulden fast unermesslich zugenommen haben. Man kann Merkel die Schuld zuschieben, es lässt sich aber auch sagen, es wäre nicht anders möglich gewesen die Corona-Krise zu überwinden. Es wird sicherlich in den nächsten Jahren viele wissenschaftliche und journalistische Arbeiten über diese Fragen geben.
Was denken Sie, wie wird es nach der Ära Merkel weitergehen?
Das weiß ich auch nicht. Ich glaube das wichtigste ist, und das ist eine Lehre, die man vielleicht so ähnlich wie aus der Amtszeit von Kohl und Adenauer ziehen kann, dass 16 Jahre Amtszeit zu viel sind. Ein Land muss sich daran gewöhnen, dass es politisch einen Wechsel gibt. Man darf nicht zu lange eine Person und damit auch ihr ganzes Umfeld an der Macht belassen, weil man dann verlernt, dass es auch einen Wechsel geben kann und in einer Demokratie auch einen geben sollte.
Sie sagten vorhin, Angela Merkel kann durchaus witzig sein. Wird man Frau Merkel nach dieser Doku anders wahrnehmen?
Man wird die Zusammenhänge besser verstehen können und genauer sehen, wie es beispielsweise zum Atomausstieg gekommen ist, wie der Atomkompromisses zwischen den Atomkraftwerkbetreibern mit der Rot-Grünen Regierung unter Gerhard Schröder zustande gekommen ist. Wie Merkel dann die massive Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke durchgesetzt hat, gemeinsam mit der FDP und dann wenige Monate später – nach Fukushima – wieder auf Gegenkurs gegangen ist. Diese Art mit der Realität umzugehen und auch unterschiedliche Positionen in unterschiedlichen Zeiten zu begründen, das wird man ganz gut nachvollziehen können.
Welche Anekdoten haben Sie in den vielen Jahren mit Angela Merkel erlebt?
Wir haben versucht uns in dem Film auf das zu konzentrieren, was man mit filmischen Mitteln darstellen kann. Es wird sicherlich nicht der einzige Film sein, den es über Frau Merkel gibt. Bisher gibt es aber keinen, welcher ihre Geschichte filmisch so genau schildert, wie wir das versucht haben. Die Filme, die bis jetzt existieren, bestehen immer aus viel zusammengeschnittenen Material und Interviews mit Leuten, die Merkels Entscheidung aus ihrer eigenen Sicht schildern und kommentieren. Das wollten wir nicht.
In Ihrer Autobiographie schrieben Sie „Das Wichtigste ist die Neugier eines Journalisten nicht die Haltung“. Hat Sie das zu diesem Ausnahme-Journalisten gemacht?
So einen Begriff würde ich nicht verwenden. Bei mir ist es so gewesen, dass ich in der Tat immer neugierig war, ich wollte Sachen kennenlernen und diesen auf den Grund gehen. Ich kann auch meine Klappe nicht halten. Wenn ich etwas rausbekommen habe, möchte ich das auch anderen mitteilen. Dafür ist der Beruf als Journalist prädestiniert. Wenn ich ein politischer Aktivist hätte werden wollen, wäre ich möglicherweise in irgendeine NGO oder eine Partei gegangen. Das ist nicht mein Ding. Ich wollte, als verspätetes Kind der Aufklärung, Sachverhalte kennenlernen, Zusammenhänge herausstellen und so gut es auch geht Dinge aufdecken. Das ist mir im Grunde genommen das Wichtigste. Es fängt damit an, für welche Themen Sie sich interessieren und für welche Themen nicht, das ist natürlich schon ein persönliches Auswahlkriterium. Ich habe mich nie als Aktivist und jemanden gesehen, der den Menschen erzählen will, was sie denken sollen. Der alte Spruch von Rudolf Augstein „Sagen was ist“, ist glaube ich sehr richtig. Manchmal ist der Journalist auch einflussreicher, wenn er sagt, wie die Realitäten sind und nicht versucht Leute zu beeinflussen, zu beeindrucken und in eine bestimmte Richtung zu lenken.
Was hätte Ihr Vater zu Ihrem Werdegang gesagt, es gab da mal eine Aussage über den Spiegel von ihm.
Die Anekdote habe ich immer erzählt, die stimmt auch. Nach der Sturmflutkatastrophe 1962 saßen wir bei den Nachbarn in der Wohnung, da wir in unserer überschwemmten Wohnung nicht mehr wohnen konnten. Im Fernsehen haben wir die Besetzung des SPIEGEL-Hauses durch die Polizei gesehen. Mein Vater, der den Spiegel gemeinsam mit anderen Zeitschriften in den Lesemappen immer mit ein paar Wochen Verspätung gelesen hat, sagte: „Hoffentlich wird das Scheißblatt endlich verboten“. Glücklicherweise musste er dann nicht mehr erleben, dass ich viele Jahre später für lange Zeit Chefredakteur dieses „Scheißblattes“ gewesen bin.