Julia Shaw, Sie standen der Produktion von "8 Zeugen" beratend zur Seite. Wie haben Sie die Zusammenarbeit für die Serie "8 Zeugen" empfunden?
Die Zusammenarbeit war wahnsinnig spannend. Ich habe Geschichten aus meiner Welt als Forscherin und Gutachterin erzählt - und das Autorenteam hat viele Elemente zum Leben erweckt. Natürlich gab es auch Szenen, bei denen ich gesagt habe: "So etwas würde ich nie machen!". Einige wurden direkt gestrichen im Drehbuch, und bei anderen haben wir uns geeinigt. Die Frage war oft: "Ja gut, vielleicht ist das unwahrscheinlich, aber wäre es möglich?"
Was ist für Sie das Besondere an der Serie? Was ist Ihnen besonders wichtig?
Das Besondere ist, dass wir den Zuschauern echte wissenschaftliche Prinzipien näher bringen können durch spannende, dramatisierte Momente. Wenn man darauf achtet, kann man auch erkennen, dass jeder Zeuge oder jede Zeugin ein Thema repräsentiert. Zum Beispiel geht es in einer Episode um Verzerrungen, die den Interviewprozess negativ beeinflussen können. In einer anderen geht es um den Unterschied zwischen Geschichten und Erinnerungen, in einer anderen um Vertrauen. Und, natürlich, bei allen Folgen geht es um die Kernfrage: Wie kann man erkennen, ob ein Gedächtnis stimmt?
Alexandra Maria Lara spielt eine Wissenschaftlerin wie sie es sind. Haben Sie sich wieder erkennen können?
Dr. Jasmin Braun ist natürlich eine fiktionale Figur und soll nur an mir angelehnt sein. Thematisch erkenne ich mich auf jeden Fall wieder – es gibt Teile vom Drehbuch, die mich fast wörtlich zitieren. Mir war auch wichtig in der Beschreibung der Figur, dass sie bisexuell ist – wie ich - da es kaum "Bi-Visibilität" im deutschen Fernsehen gibt. Die Umsetzung ist natürlich sehr dezent, wie am echten Arbeitsplatz. Es gibt aber auch einige Unterschiede zwischen Jasmin Braun und mir. Ich bin viel lockerer drauf als sie, habe keine Angststörung, und sehe weniger akademisch aus... ich trage auch keine Brille.
In der Serie geht es um einen Kriminalfall, in der es wichtig ist, dass die Zeugen sich "richtig" erinnern. Welche "klassischen" Fehler werden oft in Verhörsituationen gemacht?
Ganz schlechte Methoden im Verhör sind zum Beispiel, Druck aufzubauen oder leitende Fragen bzw. Suggestivfragen zu stellen. Dabei können suggestive Fragen auch ganz neutral aussehen. Das ist etwas, was ich immer wieder bei meiner Arbeit mit der Polizei erklären muss: wenn man eine Frage stellt und einem Zeugen ganz klar ist, welche Antwort man hören möchte, kann dies unter Umständen auch leitend sein. Zum Beispiel: "Es war doch ganz sicher dieser oder jener Mann aus dem Line-Up." Das wäre eine ganz klar leitende Fragestellung. Das wissen die meisten, dass sie das nicht machen sollten. Aber dann gibt es feinere Nuancen, die nicht ganz so einfach zu erkennen sind. Bei Suggestivfragen gibt es zum Beispiel die Variante, dass man Details erwähnt, die der Zeuge von sich aus nicht erwähnt hat. Wenn ich also frage: "Wie sah der rote Pullover aus?" Aber der Zeuge hat vorher nie gesagt, dass es einen roten Pullover gab oder überhaupt einen Pullover, dann kann allein meine Frage dieses Detail in die Erinnerung des Zeugen einpflanzen. Es kann dann eingeflochten werden in die echte Erinnerung. Und das Problem ist, dass man später nicht mehr weiß, woher diese Details kamen, sie können also einfach erzeugt werden aus dem Interviewprozess heraus. Das sollte man unbedingt vermeiden.
Warum passieren dem Gehirn solche Fehler in der Erinnerung? Was passiert dabei im Gehirn?
Gehirne sind wahnsinnig flexibel und das by design. Wir brauchen ein Gehirn, das mit den verschiedenen Momenten im Leben umgehen und Probleme lösen kann, das kreativ sein kann, das intelligent ist. Diese Flexibilität des Gehirns, Informationen neu zu kombinieren, die wir schon im Gehirn haben – darüber, wie die Welt funktioniert, wofür bestimmte Gegenstände sind, was bestimmte Fakten sind, wer bestimmte Menschen sind – das alles sind kleine Bruchteile von Erinnerungen. Und wenn man diese kombiniert bzw. neu kombiniert, kann man auch neue Lösungen finden und innovativ sein. Dementsprechend ist diese Flexibilität des Gehirns für uns sehr wichtig.
Aber in Situationen wie einem Verhör, in dem es um ausschlaggebende Erinnerungen geht, funktioniert das Gehirn genauso. Man hat Bruchteile von Erinnerungen - Emotionen, Personen und Orte, das können echte Elemente sein. Aber wir können unabsichtlich eine Erinnerung auch kreativ neu basteln und dadurch können falsche Erinnerungen kreieren. Wenn man ein solches fiktives Element wiederholt oder jemand uns gegenüber in einem Interview immer wieder sagt: "Ja, genau so war es", wie ich es in meinen Studien mache, wird es auf magische Weise zur eigenen Realität. Kurzum: Das flexible Gehirn ist wichtig, kann aber problematisch sein, wenn es um Straftaten geht.
Gibt es Möglichkeiten, sich besser zu erinnern?
Das Beste, was man machen kann, um Gedächtnisse akkurat zu speichern, ist, sich nicht auf das eigene Gehirn zu verlassen. Wenn also eine wichtige oder emotionale Situation passiert, wo die sogenannten Verbatim-Details, also die Genauigkeit dieser Details, wichtig ist - wie zum Beispiel, wenn man Zeuge einer Straftat wird – sollte man dieses Ereignis sofort und so schnell wie möglich aufnehmen als Voice-Message, Video oder als Notiz auf dem Handy. So gewährleistet man, dass man extern - außerhalb des Gehirns - eine Version speichert, die so viele Details enthält wie möglich. Denn von dem Moment an, besteht die Möglichkeit, dass Details verzerrt werden oder man vergisst Sachen und diese originale Version hilft einem, die Tatsachen im Blick zu behalten. Also: man sollte sich nicht auf das eigene Gehirn verlassen und stattdessen annehmen, dass man Sachen vergessen oder verzerren wird und dementsprechend handeln.
Wie gehen sie mit ihrer eigenen Erinnerungsspeicherung um?
Meine autobiografische Erinnerung ist nicht so gut wie meine Erinnerung an Fakten oder daran, wie Sachen zusammenpassen. Ich mag das große Bild, mag, wie Informationen zusammenpassen könnten. Und wenn Genauigkeit der Details wichtig ist, und ich mich an etwas erinnern möchte, autobiografisch oder auch so, schreibe ich es immer auf. Zum Beispiel, wenn ich lese und ein schönes Zitat finde … sofort ins Handy, egal wie viel Uhr es ist. Oder ich nehme es auf. Denn sonst ist es weg. Dabei ist es egal, wie schön das Zitat war. Egal, wie sehr ich glaube, dass ich mich mein Leben lang daran erinnern werde. Wir alle kennen das. Zehn Minuten später. Was war das noch mal? Also: immer aufschreiben.
Was sind autobiographische Erinnerungen?
Autobiografischen Erinnerungen sind Erinnerungen aus unserem Leben, vor allem Sachen, die uns wichtig sind, Momente, Emotionen. Es sind die Momente mit den Menschen, die wir lieben. Der erste Kuss, der erste Job. Das sind diese wirklich identitätsbildenden Situationen und Momente in unserem Leben. Und die stehen im Kontrast zu Fakten. Man kann wissen, dass etwas passiert ist – als Fakt – oder man kann sich komplex dran erinnern. Diese autobiografischen Erinnerungen faszinieren mich am meisten. Da liegt, glaube ich, wirklich das Menschlich-Sein drin.
Wie sind Sie zur Ihrem Forschungsfeld gekommen? Was reizt Sie an Ihrem Forschungsgebiet besonders?
Ich glaube, das Gedächtnis fasziniert jeden, wenn man lang genug darüber nachdenkt. Wie funktioniert das eigentlich? Und vor allem, was hat das Gedächtnis mit der Identität zu tun? Also: Wer bin ich?
Bei mir war diese Realitätsfaszination eigentlich immer da. Was heißt Realität? Was ist meine eigene Realität? Wie hängt das mit meiner Identität und meinem Gedächtnis zusammen?
Und darüber hinaus kam eine Inspiration daher, dass ich ein Familienmitglied habe, das paranoid-schizophren ist. Und aus diesem Grund war ganz klar für mich, von klein auf, dass es Menschen gibt, die eine ganz andere Realität haben als man selbst. Und das wollte ich studieren. Die Forschung hat mein Leben verändert, weil ich wahnsinnig viel über die eigene Realität gelernt habe.
Und vor allem in der Gedächtnis-Hacking-Forschung – also wenn man Gedächtnisse Menschen einpflanzt, vor allem komplexe, autobiografische, große, lebendige Gedächtnisse, wie ich es in meiner Forschung mache – kommt es einem schon ein bisschen vor wie Science-Fiction. Die Frage: Was kommt als nächstes? Wo geht die Forschung hin? Da ist die Wissenschaft für mich besonders interessant. Wirklich bahnbrechend.
Worum geht es in Ihrer Forschungsarbeit?
Als Teil meiner Doktorarbeit habe ich eine Studie gemacht, wo ich Probanden ‚eingepflanzt‘ habe, dass sie eine Straftat begangen haben, die nie passiert ist. Das heißt, dass sie jemanden attackiert hätten, dass sie jemanden mit einer Waffe attackiert hätten oder dass sie etwas aus einem Laden gestohlen hätten. Bei all diesen drei Situationen war die Polizei involviert. Meine Fragestellung war, ob man Menschen, die so etwas definitiv nie gemacht haben, das einreden kann im Rahmen einer Forschungssituation. Wir wussten schon von unterschiedlichen Organisationen wie zum Beispiel dem Innocence Project in Amerika, das Menschen in echten Situationen falsche Geständnisse erzeugt haben. Das Innocence Project arbeitet vor allem mit Menschen, die im Gefängnis sitzen und sagen, dass sie unschuldig sind. Die Organisation schaut sich die Fälle an, wo DNA am Tatort gefunden wurde und in einigen dieser Fälle wurden tatsächlich unschuldige Menschen verhaftet. Bei 25 Prozent dieser Fälle, die freigesprochen werden, spielt ein falsches Geständnis eine Rolle. Wir wissen also, dass Menschen in echten Situationen falsche Geständnisse abgeben und dass das Gedächtnis dabei eine Rolle spielen kann. Aber man hatte es bis dahin noch nie in einer Forschungssituation gemacht. Also wollte ich zeigen, wie man in einer Interviewsituation quasi alles, was man sonst nicht machen sollte, macht - und habe 70 % meiner Probanden ein falsches Gedächtnis eingepflanzt. Und vor Kurzem habe ich eine Studie rausgebracht, die zeigte, dass Menschen, die die Videos von meinen Probanden sehen, echte und falsche Erinnerungen nicht voneinander unterscheiden konnten. Das heißt, sie fühlen sich echt an und sie sehen auch echt aus. Deshalb ist es so wichtig, dass wir evidenzbasierte Interviewmethoden benutzen, damit es gar nicht dazu kommt, dass sie so verfälscht werden.
Welche spezielle Methode der Befragung wird in der Serie angewandt?
Mein Favorit, das kognitive Interview, das auf mehreren Jahrzehnten Forschung basiert. Diese Methode zeigt genau, wie Fragen gestellt werden sollten und wie man am besten Fakten und Details aus einem Gedächtnis rausbekommt, damit man so weit wie möglich das Gedächtnis in dem Interview-Prozess nicht verändert. Und genau diese Methode, das kognitive Interview, ist die Basis für die Vorgehensweise, die die Dr. Jasmin Braun in der Serie benutzt. Das war mir ganz wichtig, dass diese Methode so weit wie möglich angewendet wird. Theoretisch sollte jedes Interview einem genauen Skript folgen, aber das ist natürlich langweilig für eine Serie. Also haben wir es in jeder Episode modifiziert. Aber vor allem in den ersten Folgen, macht Jasmin Braun wirklich fast verbatim genau das, was man machen sollte, wenn man dieses evidenzbasierte Polizei-Verfahren benutzen würde.
Wie wirkt Cortisol auf das Gedächtnis?
Cortisol spielt eine wichtige Rolle, was das Gedächtnis angeht. Es ist das Stresshormon. Viele meinen, dass, wenn etwas wahnsinnig emotional oder traumatisch ist, man sich unbedingt und garantiert an alle Details erinnern wird. Aber das stimmt einfach nicht. Es kann zum Beispiel zu viel Cortisol im Gehirn sein, es kann also zu viel Stress sein, so dass man in einen Fluchtmodus geht und das Gehirn dann einfach nicht mehr wahrnimmt, was in dem Moment passiert, geschweige denn sich später daran erinnert. Allerdings hängt Cortisol bis zu dieser "harten Grenze", könnte man sagen, schon zusammen mit einem besseren Gedächtnis. Zu wenig Cortisol ist schlecht und zu viel ebenfalls. Ideal ist ein bisschen in der Mitte zu sein, wo man ein bisschen aufgeregt ist, aber nicht zu viel. Dann kann man sich an die meisten Details erinnern.