Für eine neue Investigativ-Reportage war das „Team Wallraff“ in vier privatwirtschaftlich geführten Pflegeeinrichtungen undercover und hat dabei zahlreiche Missstände dokumentieren können. Diese erhärten den Verdacht, dass Heime, die von so genannten Private-Equity-Unternehmen betrieben werden, zum Teil das Wohlergehen der Bewohner:innen aus den Augen zu verlieren scheinen. Was die „Team Wallraff“-Reporter:innen vor Ort erleben, wirkt erschreckend. Sie begegnen verängstigten, einsamen und vernachlässigten Heimbewohner:innen, die unter teils fragwürdigen Hygienebedingungen zu leiden haben. Und sie erleben überlastetes Pflegepersonal, Personalmangel und Führungskräfte, die aus dem Kostendruck der Konzerne keinen Hehl machen.
800.000 Menschen leben heutzutage in deutschen Pflegeheimen, bis 2030 wird diese Zahl voraussichtlich auf eine Million ansteigen. Schon jetzt fehlen bundesweit 35.000 Altenpfleger:innen. Um den künftigen Bedarf der Heime zu decken und alte Menschen angemessen betreuen zu können, sind laut Studien sogar 120.000 zusätzliche Fachkräfte nötig. (Barmer Pflegereport 2021) Rund 43 Prozent der deutschen Pflegeheime sind heute in privatwirtschaftlicher Hand. Tendenz steigend. Und private Betreiber der Heime scheinen sich den rapide steigenden Bedarf an Pflegeplätzen zunutze zu machen. Das Team Wallraff vermutet dahinter ein System: Private-Equity-Unternehmen nehmen Bankkredite auf, um Pflegeheime zu übernehmen, sie so gewinnbringend wie möglich zu betreiben und nach einigen Jahren wieder zu verkaufen. Währenddessen wird in den Heimen gespart, wie es eben geht. An Personal, Material und am Essensangebot. Aber sind alte Menschen in diesen Heimen wirklich gut aufgehoben? Scheint in privatwirtschaftlichen Unternehmen der Profit der Heime etwa wichtiger zu sein als das Wohl der Bewohner:innen? Kann das Personal unter den Gegebenheiten den Bedürfnissen der Heimbewohner:innen gerecht werden? Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Stefan Sell verweist auf schockierende Studien: „Mittlerweile liegen die ersten gesicherten Studien aus den USA und Kanada vor und diese Studien zeigen ganz eindeutig eine deutlich höhere Sterblichkeit in den Heimen und Einrichtungen, die von Private Equity Fonds geführt werden als z.B. in denen von kommunalen und gemeinnützigen Einrichtungen.“
Wie sieht es in manchen deutschen Pflegeheimen aus und erhärtet sich unser Verdacht wirklich? Team Wallraff war undercover in Heimen der Betreiber „Sereni Orizzonti“, „Alloheim“ und „Emvia Living“. RTL zeigt die neue Ausgabe von „Team Wallraff – Reporter Undercover“ am heutigen Donnerstag ab 20.15 Uhr unter dem Titel „Abgeschoben und vergessen: Das würdelose Geschäft mit alten Menschen in unseren Pflegeheimen“.
Carolin undercover im Seniorenheim Augsburg (Sereni Orizzonti)
Die erschreckenden Zustände in einem Schlierseer Pflegeheim der Betreiberkette Sereni Orizzonti, sind nach einem Corona-Ausbruch im Mai 2020 öffentlich geworden. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt hier wegen 17-facher Tötung und 88-facher Körperverletzung. Günter Wallraff und Reporterin Carolin möchten wissen, wie es in dem zweiten deutschen Heim der italienischen Kette in Augsburg, aussieht. Carolin absolviert im August 2021 ein neuntägiges Praktikum in dieser Einrichtung und erlebt zahlreiche besorgniserregende Missstände. In Gesprächen mit dem Heimleiter bekommt Carolin den Eindruck, dass die Bewohner:innen zumindest auch als Geldquelle angesehen werden. Der Heimleiter offenbart ihr, dass kurz zuvor fünf Bewohner:innen gestorben sind und er die große finanzielle Lücke (2000 Euro je BewohnerIn pro Monat) schnell stopfen müsse.
Über einen Besuch der FQA (Fachstelle und Aufsicht für Pflege- und Behinderteneinrichtungen, die die Qualität der Einrichtungen nach dem Bayerischen Pflege- und Wohnqualitätsgesetz überprüft, kurz: Heimaufsicht) weiß das Personal der Augsburger Einrichtung offenbar Bescheid. Eine Pflegerin ist froh, dass eine Bewohnerin, die unter einem schlimmen Dekubitus leidet, für den Zeitraum des Besuchs in ein Krankenhaus kommt und erzählt davon Carolin und ihren Kolleg:nnen. Ein Dokument, das vorgibt, dass diese Bewohnerin alle zwei Stunden in ihrem Bett umgedreht werden müsse, weist bei Carolins Kontrolle Lücken auf. Kolleginnen behaupten auf Nachfrage, Pflegefehler hätten diesen Dekubitus verursacht, was die Heimleitung abstreitet.
In einer Stellungnahme an RTL schreibt die Heimaufsicht dazu: „Am 11.08.2021 fand keine Begehung, sondern eine Beratung statt. (…) Die Beratung war terminlich mit der Einrichtung vereinbart.“
Daniel undercover in der Alloheim Senioren-Residenz Herzberg
Das Alloheim in Herzberg am Harz hatte im Februar 2021 Schlagzeilen gemacht, als dort eine ältere Dame erfroren ist, nachdem sie das Heim durch einen Notausgang verließ und nicht mehr zurück fand. Waren zu wenig Pfleger:innen anwesend? Wie konnte das passieren? Um sich ein eigenes Bild von den Zuständen in der Einrichtung zu machen, bewirbt sich „Team Wallraff“-Reporter Daniel im Spätsommer 2021 als Pflegepraktikant. Auch im Seniorenheim Herzberg herrscht offenbar großer Personalmangel. Die Pflegekraft auf der Demenzstation erzählt, dass sie sich allein um 15 Bewohner kümmern müsse. Für insgesamt drei Stockwerke seien nur drei Pfleger:innen im Dienst. Bereits an seinem vierten Praktikumstag soll Daniel allein für die 15 Bewohner:innen auf der Demenzstation arbeiten. Als aus einem Katheter immer mehr Flüssigkeit austritt, ist Daniel gänzlich überfordert. Wie kann es sein, dass ein Pflegeheim einen Praktikanten allein auf eine Demenzstation schickt?
Ein Sprecher der Alloheim Senioren-Residenzen rechtfertigt die Personalsituation wie folgt: „Aufgrund eines vorübergehend außergewöhnlich hohen Krankenstands zum Höhepunkt der Urlaubssaison kam es im August zu unserem Bedauern kurzzeitig zu vorübergehenden Engpässen. Alloheim hat sofort gehandelt und durch die ergriffenen Maßnahmen hatte sich die Personalsituation bereits im September spürbar verbessert.“ Und: „Nach einer entsprechenden Einweisung durch unsere Pflegekräfte (…) ist ein begleitender Einsatz von Praktikanten auf den Wohnbereichen möglich. Dies umfasst grundsätzlich in gleicher Form auch den Demenzbereich.“
Judith undercover in der Alloheim Senioren-Residenz Dormagen
War das Alloheim in Herzberg nur eine Ausnahme oder gibt es auch Beanstandungen in einem anderen Heim dieser privatwirtschaftlich geführten Pflegeheimkette? Um das herauszufinden, bewirbt sich Reporterin Judith im Spätsommer 2021 in der Seniorenresidenz in Dormagen. Auch Judith stößt während ihres zweiwöchigen Praktikums auf Umstände, die zumindest bei ihr den Eindruck eines Sparkurses vermuten lassen. Grundlagen des täglichen Bedarfs, wie Bettlaken, Einlagen und Kompressen, sind in diesem Pflegeheim während ihres Einsatzes teils nicht ausreichend vorhanden. Etwa 90 Minuten sucht die Reporterin im Haus nach frischen Bettlaken, um einer Dame endlich das eingenässte Bett frisch zu beziehen. Hierzu nimmt Alloheim wie folgt Stellung: „Zu unserem Bedauern kam es im August 2021 in Dormagen aufgrund eines solchen individuellen Fehlers übergangsweise dazu, dass die zentrale Reserve nicht ausreichend gefüllt war. Sobald dieser Fehler identifiziert war, hat Alloheim gehandelt und ihn behoben.“ Man spare nicht an Qualität und nicht an Material.
Günter Wallraff undercover im Seniorenheim Flora Marzina in Herne
Die Einrichtung Flora Marzina in Herne gehört heute zum Träger Emvia Living. Auch dahinter verbirgt sich ein Private-Equity-Unternehmen. Aus dieser Einrichtung erreichte Günter Wallraff der Hilferuf einer 87-jährigen Bewohnerin, die über schlimme bauliche Mängel wie z.B. Wasserschäden, ausfallende Heizungen, nicht behindertengerechte Duschen klagt sowie nicht ausreichendes Essen. Rosemarie Dürselen ist seit 2018 in der Einrichtung untergebracht. Mitunter käme es sogar dazu, dass sie beim Essen ganz leer ausgehe, da ihr Zimmer am Ende des Gangs liege und das Essen nach ihrer Aussage nicht immer für alle Bewohner:innen reiche. Das bestätigen zwei Pflegekräfte, die Günter Wallraff verdeckt interviewt. Sie berichten weiter, dass wohl einige Pflegekräfte inzwischen sogar aus ihrer eigenen Tasche heraus Lebensmittel für die Bewohner:innen einkaufen würden.
Eine Sprecherin der Emvia Living verweist auf bestehende Baupläne und Investitionssummen im Millionenbereich, um das Haus zukunftsfest zu gestalten. Diese würden schrittweise umgesetzt: „Eine Maßnahme war zum Beispiel der Einbau einer neuen Heizungsanlage im Sommer 2021. Bewohner*innen und Angehörige wurden im Vorfeld über die zweitägige Maßnahme informiert. Die Bewohner*innen wurden für die Tage mit Decken und Heizstrahlern versorgt.“ Zu Verpflegung äußert Emvia Living, „in der hauseigenen Küche werden alle Bewohner*innen täglich frisch bekocht. […] Auf Wunsch können auch die Mitarbeitenden im Haus essen. Es ist ausreichend vorhanden.“
Günter Wallraff kritisiert allgemein den privatwirtschaftlichen Gedanken in der Pflege als solchen. Sollten Gewinne im Vordergrund stehen, müsse das System grundlegend geändert werden: „Spekulationsinteressen und Profitgier von Pflegekonzernen, der Kostendruck in rein renditeortientierten Unternehmen und der dramatische Personalmangel in der Pflege verschärfen sich zunehmend. Die Leidtragenden dieses Systems sind neben den Pflegebeschäftigen alte und hilflose Menschen, die regelmäßig zu Opfern eines Systems werden, das sich niemand für seine Angehörigen oder sich selbst wünscht.“
Alle hier genannten Betreiber bestreiten die Vorwürfe, zur Gewinnmaximierung an Qualitätsaspekten und Fachpersonal zu sparen.
Im Anschluss zur aktuellen "Team Wallraff"-Ausgabe widmen sich auch „RTL Direkt“ (22.15 Uhr) und ein „Extra Spezial“ (22.35 Uhr) dem Thema Altenpflege. Pinar Atalay spricht dazu in "RTL Direkt" u.a. mit Christine Vogler, Präsidentin des Pflegerats, über die Herausforderungen in der Pflege. Im „Extra Spezial“ sind Günter Wallraff und Reporterin Caro zu Gast bei Jana Azizi. Gemeinsam werfen sie u.a. einen Blick ins Ausland nach Dänemark und Polen. Funktioniert Pflege dort besser? Und welche alternativen Modelle gibt es auch hierzulande? Ein Besuch von Günter Wallraff in Friesenhagen zeigt: Als gemeinnützige GmbH können Pflegeheime für Bewohner:innen und Personal funktionieren. Undercover-Reporterin Caro berichtet außerdem am Freitag, 11.2., in „Guten Morgen Deutschland“ sowie bei „Punkt 12“ über ihre Erfahrungen.
Begleitend zur TV-Ausstrahlung erscheint zudem eine neue Folge von "Team Wallraff – Der Podcast" bei AUDIO NOW und überall sonst, wo es Podcasts gibt. Darin sprechen Günter Wallraff und sein Team über ihre persönlichen Erfahrungen bei den Undercover-Einsätzen in der Altenpflege und über die Dinge, die im TV nicht zu sehen waren. Sie schildern, wie sie die Missstände aus nächster Nähe mitbekommen haben und was sie daran nachdenklich gemacht hat. Welche Situationen gingen ihnen besonders nahe? Wann sind sie an ihre Grenzen gekommen? Und was können Angehörige tun?
Weitere Infos sind abrufbar unter:
RTL.de: https://www.rtl.de/cms/team-wallraff-undercover-in-pflegeheimen-das-wuerdelose-geschaeft-mit-alten-menschen-4915934.html
Instagram: @teamwallraff.rtl (https://www.instagram.com/teamwallraff.rtl)
Facebook: https://de-de.facebook.com/team.wallraff
Günter Wallraff im Interview:
Warum ist das Thema Pflege relevant?
In den letzten Jahren haben wir immer wieder Missstände in Pflegeheimen thematisiert und teils menschenverachtende Zustände nachgewiesen: Ältere und hilflose Menschen werden regelmäßig zu Opfern eines Pflegesystems, das sich niemand für seine Angehörigen oder sich selbst wünschen kann. Die finanziellen Interessen von manchen Pflegekonzernen, der Kostendruck rein renditeortientierter Unternehmen verschärfen sich zunehmend. Mittlerweile belegen Studien eindeutig, dass in Privat-Equity-geführten Einrichtungen die Sterblichkeit deutlich höher liegt als in kommunalen und gemeinnützigen Einrichtungen. Es tritt deutlich zutage: Wer in unserem Land auf Pflege angewiesen ist, muss sich oft auf das Allerschlimmste gefasst machen.
Was haben Sie und die „Team Wallraff“-Reporter vor Ort in den Pflegeheimen erlebt?
Was wir dokumentiert haben, hat uns erschüttert: Bei vielen Betreibern wird auf Kosten der alten Menschen an Fachkräften gespart, es gibt viel zu wenig Personal. Viele der Pflegebeschäftigen, die noch durchalten, wirken überarbeitet. Pflegebewohner vereinsamen, Menschen leiden teilweise unter fragwürdigen Hygienebedingungen und haben oft Angst, sich über die Situation zu beschweren. In manchen Heimen fehlt es teilweise am Notwendigsten, sogar das Essen wird teilweise rationiert.
Wie müsste die Politik reagieren, um die Situation zu verbessern?
Pflege darf nicht dem Gewinnstreben und Spekulations-Interessen überlassen werden, sondern sollte dem Gemeinwohl verpflichtet sein – so wie Feuerwehr und Polizei. Die Weichen dafür müssen in der Politik gestellt werden.
Was können Angehörige tun, wenn zuhause pflegen keine Alternative ist?
Größte Vorsicht ist geboten, wenn die Heime von großen und rein profit-orientierten Unternehmen oder Konzernen geführt werden. Bei gemeinnützigen Einrichtungen wird der Gewinn reinvestiert – was auch die Situation der Pflege verbessert. Hilfreich ist es zudem, sich im Freundes- und Bekanntenkreis zu Erfahrungen mit einem fraglichen Heim umzuhören – „Mundpropaganda“ ist häufig verlässlicher als die offiziellen Bewertungssysteme. Auch kann man sich selbst ein Bild von einem Heim machen – der bauliche Zustand der Heime oder der Umgangston mit den Menschen lässt durchaus Rückschlüsse auf die Qualität zu. Oft erkennt man gute Heime auch an den sehr langen Wartelisten – leider!
Zitate der „Team Wallraff“-Undercover-Reporter:innen:
Reporterin Judith:
„Undercover als Pflegepraktikantin habe ich am eigenen Leibe erfahren, wie hart der Job der Pflegekräfte ist und wie viel von ihnen erwartet wird. Es hat mich besonders traurig gemacht, dass keine Zeit für menschliche Nähe bleibt und an vielem gespart wird. Viele ältere Menschen fühlen sich allein gelassen, während die Pflegekräfte an ihre körperlichen und psychischen Grenzen stoßen.“
Reporter Daniel:
„Ich habe den Pflegenotstand während meines Undercover-Einsatzes selbst erlebt. Ich war als Praktikant wegen des Personalmangels zeitweise alleine auf einer Demenzstation eingesetzt: Ich habe gesehen, wie Bewohner leiden und Mitarbeiter in völliger Überbelastung nicht mehr wissen, wie sie ihre Arbeit schaffen sollen. Es muss sich etwas ändern! Ein weiter wie bisher darf es nicht mehr geben.“
Reporterin Caro:
„Es kann nicht sein, dass alte Menschen in den Heimen dahin vegetieren, ohne Beschäftigung, ohne Zuneigung - ohne mal eine Hand halten zu können. Dass Bewohner Angst haben ausgeschimpft zu werden, wenn sie nach Essen fragen, macht mich traurig. Und es macht mich wütend, dass Menschen in Deutschland verhungern, misshandelt werden und dafür auch noch sehr viel Geld bezahlen.“